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«Architektur und Ingenieurbauten 1920-1975»

Baukultur im Wallis

Jacques Melly

Staatsrat, Vorsteher des Departements für Verkehr, Bau und Umwelt

Unter den Schweizer Regionen besitzt das Wallis wohl eine der kontrastreichsten Landschaften. Seit alters her von der Zeit und von Menschenhand geformt, hat dieses Land jahrhundertelang den Charakter seiner Bewohner geprägt. Passübergänge, Saumpfade, kilometerlange Suonen, Rebmauern und Terrassenkulturen, Scheunen, Brücken, Strassen, Berg- und Festungswerke in jeder Talregion und allen Bergdörfern berichten von der Geschichte, in der Generationen von Pionieren, beseelt vom eisernen Lebens- und Überlebenswillen, in der Rhoneebene und den Sei-
tentälern steinerne Spuren hinterlassen haben.

Das ausgehende 19. Jahrhundert hatte die Umwälzung der Industrie, der Landschaft und des Hotelgewerbes erlebt, das 20. Jahrhundert brachte jene des Betons, der Elektrizität und des Tourismus: Eindämmung der Rhone, Bau des Eisenbahnnetzes, Durchbruch von Tunnels, Errichtung von Staumauern und Kraftwerken – ein einzigartiges  Zusammentreffen grosser Projekte kündigte den Beginn einer spannenden Zeit an. Aus heutiger Perspektive fällt es schwer, sich die Tragweite der gesellschaftlichen Veränderungen und die Anstrengungen zur Verbesserung der Lebensqualität zwischen den 1920er- und 1970er-Jahren vorzustellen. Der Wandel war rasant. Er transformierte ein weitgehend agrarisch geprägtes Leben in eine Produktions- und Dienstleistungswirtschaft: Von der Suste bis zur Bodenstation Brentjong – innert einer einzigen Generation wurden die Maultiere von Kommunikationssatelliten abgelöst.

Die Errichtung von Staumauern und Wasserkraftwerken brachte Arbeit und zusätzliche Produktionsmittel. Um die Bauplätze zu erreichen, wurden Strassen ins Gebirge gehaut. Das rasche Bevölkerungswachstum durch verbesserte Le-bensbedingungen machte den Bau neuer Wohnungen und neuer Infrastruktur erforderlich. Die Erhöhung der Finanzmittel erlaubte den Gemeinden und dem Kanton, diese Herausforderungen zu bewältigen und die grossen Verkehrsachsen auszubauen. Der Zukunftsglaube und ein wacher Unternehmungsgeist liessen zahlreiche Projekte entstehen.

Werden die Industrie- und Hotelbauten des 19. Jahrhunderts heute zunehmend als wertvolle Kulturgüter betrachtet, so finden auch die wichtigsten Bauwerke des 20. Jahrhunderts immer mehr Anerkennung. Es sind Denkmäler unserer Geschichte, die ebenfalls Respekt, Inventarisierung und Schutz verdienen. Informationen über sie zu sammeln, um sie evaluieren und schliesslich in das Kulturerbe aufnehmen zu können, das ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Er ist Teil eines Bewusstwerdungsprozesses, der zur formellen Bestätigung eines Inventars führen wird. Dabei geht es nicht darum, diesen Bauten den Status der Unveränderlichkeit zu geben, sondern darum, sie bekannt zu machen und ihr Überleben zu sichern, damit sie unsere gemeinsame Kultur bereichern. Sie sind das Ferment für unsere Wurzeln und unsere Identität, aus ihnen können wir Kraft schöpfen, um mit Erfindungskraft und Mut künftige Probleme zu meistern – ganz nach dem Vorbild unserer Vorfahren, die dieses freie, ungezähmte Land zu bändigen verstanden.